Mein lieber Liam
Du warst geplant, eine bewusste Entscheidung, ein absolutes Wunschkind.
Schon von Anfang an warst Du besonders. Es brauchte 5
Schwangerschaftstests, bis auch die Teststreifen glaubten, was wir
schon lange wussten: Du warst unterwegs zu uns.
Mir war
so übel in den ersten 3 Monaten und ich verlor jeglichen
Geschmacksinn, wodurch Deinem Daddy und Bruder einige sehr scharfe
und furchtbar versalzene Menues serviert wurden...:-)
Der
1.US, der bestätigte, dass Du am richtigen Ort angekommen bist
und Dich eingenistet hast. Wir waren so glücklich und an Ostern
erzählten wir dann auch Deinen Grosseltern, Onkel und Tanten,
dass Du unterwegs warst. Dein grosser Bruder trug stolz das T-Shirt
mit der Aufschrift: "ich bekomme Verstärkung!" Wir
nannten Dich Squirrly (Eichhörnchen).
Eine
Woche später dann aber der Schock: Verdickte Nackenfalte, minim
zwar aber doch verdickt. Wir versuchten uns keine Sorgen um Dich zu
machen. Wir entschieden uns auch gegen eine Fruchtwasseruntersuchung.
Das 1% Risiko Dich zu verlieren war und im Vergleich zur 2% Chance,
dass mit Dir etwas nicht gut sein könnte, zu gross.
Wir
hatten Angst um Dich und die Erleichterung war gross, als ich Dich in
der 17. Woche das 1. Mal spührte. Mit einer Vorderwandplazenta
war es am Anfang nicht immer einfach, Dich zu spühren.
Am
7.Juni haben Dein Daddy und ich ein langes Gespräch ueber Dich
geführt, wir hatten beide das Gefühl, dass etwas nicht gut
war. Wir riefen am nächsten Tag unseren Frauenarzt an und
konnten am 9. kurzfristig zu einem Ultraschall.
Der
Arzt setzte das Schallgerät auf meinen Bauch und meinte: Das
Kind ist tot. Uns blieb fast das Herz stehen. Dann sah er aber doch
eine Herzaktion aber er hatte Mühe, irgendetwas klar zu
erkennen. Er sagte, dass er nicht genau wisse was los sei, er aber
nicht denke, dass Du lebensfähig sein wirst.
Er organisierte uns einen Termin beim Spezialisten im Kantonsspital.
Dein
Daddy und ich haben nur noch geweint und Dein grosser Bruder ist von
einem zum anderen gegangen und hat uns versucht zu trösten. Wir
konnten am Donnerstag zur Frauenärztin. Sie hat erstmal alles
angeschaut was gut ist an Dir, Dein Kopf war normal, Hirn gut
etwickelt auch die Arme und Beine waren zu erkennen. Aber Dein
Körperstamm war komplet verkehrt.
Auch
sie gab Dir keine Chance ausserhalb meines Bauches zu überleben,
bzw. die Schwangerschaft werde wohl eh nicht mehr lange dauern.
Wir
machten dann doch eine Fruchtwasserpunktion, um zu wissen ob auch mit
Deinen Chromosomen ein Problem bestand.
Dies
war die schlimmste Untersuchung überhaupt. Ich hatte so Panik,
dass ich Dich damit noch mehr schädigen könnte, bzw. Deinen
Tod herbeiführen würde. Die Ärztin war sehr
verständisvoll aber die Hebamme hätte ich an eine Wand
knallen können. Meinte sie doch: Sie muessen versuchen das
Positive an dieser Situation zu sehen und sie müssen ihr Kind
trotzdem lieben. Himmel, natürlich liebe ich mein Kind! Sonst
täte es ja nicht so verdammt weh!
Zum
Glück war mit Deinen Chromosomen alles gut und wir erfuhren
auch, dass Du ein Junge sein wirst.
Für
uns war klar, dass wir Dir die Entscheidung über Dein Leben
überlassen werden. Wir wollten nicht sagen: Heute ist Dein
Todestag. Die Trauer über den baldigen Tod von Dir ist schlimm
genug, ich hätte nicht die Kraft gehabt, zusätzlich noch
mit den Schuldgefühlen einer Abtreibung leben zu können.
Wir
sagten zu den Ärzten, dass Du ein Wunschkind bist und nur weil
Du nun nicht so bist, wie wir Dich bestellt haben, werden wir Dich
nicht einfach zurück geben. Du bist unser Kind und wir lieben
Dich und werden Dich bei uns haben solange es uns eben vergönnt
ist. Die Ärzte haben Deiner Krankheit dann auch einen Namen
gegeben: Body Stalk Syndrom. Eine ganz seltene Anomalie des
Körperstamms. Es gab keine Überlebenschancen für Dich
und wir fanden nur ein Beispiel, wo jemand ein Kind mit einer solchen
Krankheit auch ausgetragen hat. Dieser Junge starb kurz nach der
Geburt.
Die
folgenden Monate waren eine Achterbahn. Wir haben viel geweint, waren
wütend, depremiert und verstanden den Sinn hinter allem nicht.
Es waren aber auch wunderbare Monate, gefüllt mit Momenten und
Erinnerungen an Dich.
Ich bin
oft mit Dir schaukeln gegangen, weil Du nie selbst schaukeln wirst,
dabei hast Du immer fleissig gestupst, als wolltest Du mir Schwung
geben. Du liebtest Musik, dabei hatten wir auch unsere erste
Meinungsverschiedenheit: Wir besuchten ein Konzert mit chinesischer
Musik, bei dem Instrument, welches mir am Wenigsten gefiel hast Du am
Meisten gestrampelt und während des schönen Klavierteils
warst Du ruhig..:-)
Auf die
vielen Luftküsse Deines Bruders hast Du mit wahren
Begesterungsstürmen reagiert und Deinem Daddy hast Du gerne
einen Gute Nacht Stubs gegeben. Du warst sowieso nachtaktiv, 22:00-
01:00 Uhr war Deine Lieblingszeit. Bin darum etwas übermüdet,
weil ich für diese Zeit immer wach sein wollte, um Dich zu
spühren.
Wir
waren sehr offen über Deine Situation, haben Nachbarn, Freunde
und Familie eingeweiht. Dadurch haben wir sehr viel an Solidarität
erfahren dürfen. Wir wurden von sovielen Leuten begleitet und
unterstützt und haben soviele Zeichen der Verbundenheit erfahren
dürfen. Dafür werden wir immer dankbar sein. Unser
Freundeskreis wurde umgekrempelt und wir wissen nun, auf wen auch in
schweren Zeiten Verlass ist und unsere Familie hat es
zusammengeschweisst.
Die
Untersuchungen waren immer sehr schwierig, jedes Mal fand sich etwas
Neues das nicht in Ordnung war mit Dir. Es stellte sich auch heraus,
dass ich, sobald wir über der 26. Woche waren, einen
Kaiserschnitt haben werden muss, da Du nur 2 cm Nabelschnur hast. Ich
hatte bei Deinem Bruder schon einen Notkaiserschnitt nach 3Tagen
Wehen. Dieser war absolut traumatisch und das Wochenbett hatte ich
nur als Horror in Erinnerung. Es war so ein zwiespältiges
Gefühl: Einerseits wollte ich keinen Kaiserschnitt, andererseits
wollte ich Dich solange wie möglich bei uns haben.
Unser
erhofftes Ziel war, Dich bis zur 35. Woche bei uns zu haben, damit
Deine Lungen genug entwickelt sind, dass Du eventuell noch ein paar
Minuten lebst und wir Dich kennenlernen dürfen. Die Ärzte
glaubten aber nicht, dass Du länger als 26 Wochen bei uns
bleibst.
Die
Wochen kamen und gingen und Du entwickeltest Dich entgegen der
Erwatungen der Ärzte gut. Bist normal gewachsen, konntest
Fruchtwasser schlucken und hast Dich, im Rahmen Deiner
Einschränkungen, gut bewegt.
Wir
haben diese Zeit sehr bewusst erlebt mit Dir, hätte doch jeder
Tag Dein letzter sein können. Wir versuchten, jede Minute mit
Dir auszukosten und haben auch Deinen Bruder in alles mit einbezogen.
Einmal kam er zum US mit. Wir haben ihm damals noch nicht bewusst
gesagt, dass Du Liam heissen wirst. Er sah das Bild an, legte dann
seine Hand auf meinen Bauch und meinte: Liam Buuch.
Mittlerweilen
war die 32.Woche gekommen und wir mussten der Tatsache ins Auge
blicken, dass wir wohl doch ein Datum für Deine "Geburt/Tod"
setzten müssen. Wir konnten uns nicht durchringen, Deinen
Todestag zu bestimmen. Der FA meinte, Ende September, bis spätestens
6.10. Wir sprachen uns mit unseren Familien ab und einigten uns
schweren Herzens auf den 2.10. weil dann Deine Grossmutter aus den
USA dabei sein werden kann.
Am 17.
Sept. war unser nächster Frauenarzttermin, wo wir mit den Ärzten
ueber den Kaiserschnitt reden wollten und das Datum bestimmen würden.
Am 16. um 03:00 Uhr wachte ich auf mit Bauchschmerzen. Erst habe ich
mit Dir geschimpft und Dich gebeten, doch von meiner Blase
runterzukommen. :oops:
>Die
Schmerzen kamen und gingen, ich nahm dann ein Bad, was keine
Linderung brachte, darum rief ich im Spital an und fragte was ich tun
soll. Erst da wurde mir bewusst, dass ich wohl Wehen hatte. Ich habe
mit so vielem gerechnet in dieser Schwangerschaft, aber nie mit
Wehen.
Der
Wehenschreiber meinte dann auch, dass ich Wehen habe. Muttermund war
aber noch komplett zu. Wir beschlossen, dass wir auch zuhause warten
können ob die Wehen aufhören oder stärker werden. Wir
fuhren also nach hause, mit dem Wissen, dass wenn die Wehen nicht
aufhören, wir am Morgen zum KS einrücken wuerden. Am Abend
bevor die Geburt Deines grossen Bruders eingeleitet wurde, haben wir
Pizza gegessen. Darum haben wir Pizza bestellt.
Als der
Bote klingelte ging bei mir das Fruchtwasser ab. Wir packten die
Pizza ins Auto, packten im Eiltempo und fuhren wieder ins Spital. Ich
habe den ganzen Weg geweint, weil ich Dich schon ein paar Stunden
nicht mehr gespührt hatte, hatte ich Angst, dass Du schon
gestorben bist. Im US sah man dann aber, dass Dein Herz noch schlug.
Ich wurde in den OP geschoben und die Spinale wurde gesteckt. Während
der Fahrt in den OP hast Du wieder angefangen zu kicken, ich war
soooo froh. Als die Spinale gestochen wurde, habe ich noch gedacht:
dies ist der letzte Kick von Dir. Die Spinale wirkte dann aber ganz
speziell, ich hatte keine Schmerzen aber ich habe alles gespührt
was gemacht wurde. Hätte immer genau sagen können, wo genau
geschnitten und gezogen wurde. Ich habe Dich während der ganzen
Operation gespührt. Leider war die Operation sehr schwierig, sie
mussten Dich mitsamt der Plazenta aus mir herausschneiden, wodurch
wir beide sehr viel Blut verloren. Bei einem gesunden Kind wäre
das schon ein grosser Stress, bei einem kranken Kind tödlich.
Als sie Dich rausnahmen, hast Du noch ein kleines Hallo für
Deinen Daddy und mich gerufen, dann war es still, die Nabelschnur
habe noch kurz pulsiert und dann war auch sie ruhig. Dein Daddy
durfte die Nabelschnur trennen und dann kamst Du zu mir. Du hattest
die Augen noch offen und sahst so lebendig aus, dass ich es kaum
glauben konnte, dass Du schon nicht mehr da warst.
Ich
habe noch nie in meinem Leben einen solchen Schmerz verspührt,
wie in dem Moment. Ich wollte Dich zurück haben, hätte Dich
sogar zurück in den Bauch getan, wo es Dir 33 Wochen gut ging.
Du
warst ein wunderschönes Baby, mit schwarzen Haaren wie Dein
Bruder bei der Geburt gehabt hatte, mit denselben langen, dünnen
Fingern und der riesigen Grosszehe. Dein Näschen war etwas
eingedrückt, weil es die ganze Zeit gegen meine Gebärmutterwand
gedrückt gewesen war, dieses Stubnäschen gab Dir einen
frechen Ausdruck, Du sahst so friedlich aus, einfacht wunderschön.
Im Internet haben wir Bilder von Babies mit Body Stalk Anomalie
gesehen, diese sahen alle sehr unschön aus. V.a. dein Daddy hat
sich Sorgen gemacht, wie Du wohl aussehen wirst. Seine Sorgen waren
unbegründet. Du warst wunderschön.
Wir
durften Dich zwei Tage bei uns behalten und dann noch zwei Tage
jederzeit anschauen und halten gehen. Wir konnten Dich unseren
Familien und unseren besten Freunden vorstellen. Dein grosser Bruder
konnte Dich halten, hat Dir Büchli gezeigt und war so begeistert
von Dir. Wir sagten, wenn Du nicht schon tot wärst, dann hätte
er Dich tot-gedrückt.
Heute
nun haben wir Dich bei uns im Garten begraben, es war eine
wunderschöne Zeremonie, traurig aber wunderschön.
Dabei
hat uns jemand gefragt, ob, wenn wir zurück gehen könnten
und uns Anfang Jahr die Wahl gegeben würde: die Zeit mit Dir zu
haben oder nicht schwanger geworden zu sein, was wir wählen
würden. Da mussten wir ganz klar sagen: Wir könnten nicht
auf Dich verzichten. So kurz Du bei uns gewesen bist, wir könnten
uns unser Leben ohne Dich nicht vorstellen. Du wirst immer zu uns
gehören, unser zweitgeborener Sohn sein, für uns bist Du
perfekt und wir lieben Dich von ganzem Herzen.
Ich
würde mich auch wieder für diesen Weg entscheiden. Du hast
uns soviel gegeben und wir haben nun ein Kind, ein Kind welches für
alle sichtbar da war, existiert hat. Wir haben über 100 Fotos
von Dir, Erinnerungen an die Zeit mit Dir, Erinnerungen an Dich. Wir
konnten Dich halten, knuddeln und wir wissen wie Du im Bauch drin
warst. Wir konnten Dich allen wichtigen Leuten vorstellen. Hätten
wir Dein Leben vorzeitig beendet, hätten wir all dies nicht. Du
wärst ein Kind, das nie richtig existiert hat, ein Kind, dass
nur für uns eine Bedeutung hätte. Und wir müssen nie
sagen, wir hätten Dir nicht alles gegeben was wir konnten, wir
haben Dir die Entscheidung überlassen und Du hast selbst
entschieden. Dafür sind wir Dir dankbar.
In Liebe
Dein Mami
Letzte Aktualisierung dieser Seite: 03.03.2020