Mio
Ich war schwanger, was für eine Überraschung und was für
eine Freude! Mich möglichst schnell bei Martina, der Hebamme,
anmelden, dachte ich, die kannte ich schon durch meine Arbeitsstelle.
Der erste Besuch beim Frauenarzt hatte mich gar nicht überzeugt,
und sowieso wollte ich so wenig wie möglich mit Ärzten zu
tun haben. So stand recht früh fest, dass wir, wenn möglich,
zu Hause entbinden wollten.
Es ging mir blendend während der Schwangerschaft, so ausgeglichen
hatte ich mich bisher selten gefühlt. Den vorgesehenen zweiten
Ultraschall ließ ich ausfallen, da ich mir sagte, das
Organscreening hätte sowieso keine Konsequenz für mich.
Selbst wenn dem Kind irgendetwas fehlt, ich würde es trotzdem
wollen.
Beim vorgesehenen dritten Ultraschall dann der Schock: der
Kopf hat eine Delle, und einen Oberschenkel zum Vermessen konnte der
Gynäkologe auch nicht finden. Er überwies uns zum
Spezialisten.
Dort dann nach ewigem Herumfuhrwerken mit dem
Ultraschallkopf auf meinem Bauch, begleitet von beklemmendem
Schweigen, die Aussage „Ihr Kind hat eine schwere Form von
Glasknochenkrankheit, bei der auch der Brustkorb betroffen ist. Diese
Ausprägung ist letztendlich mit dem Leben nicht vereinbar“.
Wie in Trance und mit einem Tränenschleier vor den Augen bin ich
danach die langen Flure des Krankenhauses entlanggelaufen bis ich
endlich im Freien war und weinen konnte. Dass das Kind vielleicht
behindert sein könnte, damit hatte ich mich ja schon
auseinandergesetzt. Aber dass es gar nicht lebensfähig sein
sollte, daran hatte ich noch überhaupt nicht gedacht.
Was nun?
Ein Gefühl der Sinnlosigkeit beschlich mich in den Stunden
nach der Diagnose. Warum schwanger sein, wenn man hinterher kein Kind
in den Armen halten darf?
Aber die Schwangerschaft beenden? Nein, das
geht noch viel weniger, das stand recht schnell fest. Ich spürte
das Kind in meinem Bauch, es strampelte, und ich hatte es
liebgewonnen.
Zum Glück war Martina gerade aus dem Urlaub
zurückgekommen, so dass wir noch am selben Abend telefonieren
konnten. Martina war dann auch diejenige, die klare Worte bezüglich
der nächsten Schritte fand. Das hatten leider weder Gynäkologe
noch Ultraschallspezialist fertiggebracht.
Die folgenden Tage und Wochen waren geprägt von Internetrecherchen,
zahlreichen Telefongesprächen mit verschiedenen Experten,
Hoffnungen (vielleicht gibt es ja doch eine Überlebenschance?),
inneren Widerständen (muss ich dann einen Kaiserschnitt machen
lassen?) sowie einem Besuch in der Uniklinik Köln. Dort wurde
immerhin mein schlechtes Ärztebild wieder zurechtgerückt,
denn man nahm sich wirklich Zeit für uns. Doch am Ende stand
fest, dass kein medizinischer Fortschritt und keine Atemmaschine das
Kind am Leben halten könnte. Dazu war es einfach zu krank.
Erleichterung in mir drin. Kein Kaiserschnitt und keine
Intensivstation sind nötig. Wir können dem Leben seinen
Lauf lassen, ohne uns vorwerfen zu müssen, nicht alles versucht
zu haben.
In diesem Entscheidungsprozess war uns unsere Hebamme
Martina Eirich eine große Hilfe. Sie signalisierte, dass sie
uns weiter begleiten würde, egal wo wir am Ende entbinden. Und
sie wurde mehr und mehr zur Seelsorgerin, die die richtigen Fragen
stellte und uns dadurch unseren eigenen Weg finden ließ.
Fünf Wochen zu früh ging es dann los, mitten in der Nacht mit einem
Blasensprung. Das nötige Equipment für eine Hausgeburt
hatten wir am Tag vorher eingekauft, so dass ich nicht in Panik
ausbrechen musste. Martina kam am Morgen und schickte uns noch ins
Diak, denn ein Gespräch dort stand noch aus. Wie eigentlich
jeder Arzt, dem wir bisher begegnet waren, riet uns der diensthabende
Gynäkologe von einer Hausgeburt ab. Dieses Mal mit der
Begründung einer möglichen Infektionsgefahr bei einem
Blasensprung. Wir versprachen wiederzukommen, falls die Wehen nach 18
Stunden nicht eingesetzt hätten.
Wieder zu Hause hatte ich das Gefühl, nun endlich alle Vorprüfungen
bestanden zu haben, und dass nun das richtige Abenteuer beginnen
konnte. Martina mixte mir einen homöopathischen Wehencocktail
und dann ging es tatsächlich los! Erst singend unter der Dusche,
dann auf dem Bett liegend versuchte ich die Wehen zu veratmen. Binnen
weniger Stunden war der Muttermund vollständig offen. Ich kam
mir vor wie auf einem galoppierenden Pferd, das auf keinen Fall noch
schneller werden durfte, sonst hätte es mich abgeworfen.
Nach nur wenigen Presswehen und einem Wechsel auf den Gebärhocker war
Mio geboren. Ganz weit hatte er seine Augen offen, so als wolle er in
diesen kurzen Augenblicken alles erfassen was es auf dieser Welt zu
sehen gibt.
Wir konnten das Herz schlagen fühlen, doch atmen tat
er nicht. Wie ein kleiner Buddha sähe er aus, mit seinem
Doppelkinn und dem etwas aufgeblähten Bauch, meinte Martina. Und
während ich mit Plazenta gebären beschäftigt war,
hörte das Herz auch schon auf zu schlagen.
Martina machte ihn
ein wenig sauber, wir wickelten ihn in eine Decke, und dann durfte er
neben mir im Bett liegen. So konnte ich ganz in Ruhe seine winzigen
Hände anschauen und seine hübsche Nase berühren.
Später legten wir ihn in einen Weidenkorb, wo er die Tage bis zu
Beerdigung bei uns bleiben durfte.
Die folgenden Tage waren voll intensiver Gefühle. Dankbarkeit
darüber, dass wir tatsächlich in Ruhe zu Hause entbinden
durften. Erstaunen, wie viele Menschen an uns denken, uns besuchen
kommen, Karten mit schönen Worten schicken, mit uns Glück
und Schmerz teilen. Trauer über das tote Kind, die der Geist
erst zulässt, als der Körper mit einschießender Milch
signalisiert, dass er doch ein lebendiges Kind erwartet. Freude
darüber, all diese Gefühle zu zweit als Paar teilen und
gemeinsam daran wachsen zu können. Martina kam täglich, so
dass wir all diese Gefühle mit ihr reflektieren konnten.
Der Bestatter kam am übernächsten Tag, mehr oder weniger um uns
zu sagen, dass wir alles selber machen können. Wir füllten
ein paar Formulare aus, alles andere überließ er uns.
Welch ein Glück, an einen solchen Menschen zu geraten, der zu
wissen scheint wie wertvoll die Zeit zwischen Sterben und und
Begraben ist. So hat Tobias das Loch auf dem Friedhof selbst
ausgehoben und einen schönen Sarg aus einem Eichenstämmchen
geschnitzt.
Auch bei der Gestaltung der Feier hatten wir das Gefühl,
dass wir keinen Pfarrer oder Trauerredner brauchten. Stattdessen
fingen wir an aufzuschreiben, was uns wichtig war und gesagt werden
wollte. Wir suchten Lieder raus, dichteten teilweise um, und so fügte
sich nach und nach alles zusammen. Wir ließen uns leiten von
unseren Impulsen, fragten nicht nach Konventionen wie „man es
so macht“, und das fühlte sich gut und stimmig an. Am Ende
hatte ich das Gefühl, dass es eine wunderschöne Feier
werden würde.
Wir waren überwältigt von der Anzahl an Menschen, die kamen, um
Mio mit uns zusammen zu verabschieden. Und das obwohl die meisten ihn
nur als runde Kugel in meinem Bauch kennengelernt hatten. Die Feier
wurde tatsächlich wunderschön. Mehr und mehr bekam ich das
Gefühl, dass wir einen Engel verabschiedeten, der gekommen war,
um die Herzen einiger Menschen zu bewegen und zu heilen. Vielleicht
war er ja tatsächlich ein kleiner Heiland, wie Tobias meinte.
Noch viele Wochen nach der Geburt fühlte es sich für mich
an, als sei gerade Weihnachtszeit, eine heilige und besondere Zeit,
in der die Tore zum Himmel besonders durchlässig sind.
Judith
Letzte Aktualisierung dieser Seite: 03.03.2020