Bilaterale Nierenagenesie / Potter Syndrom
Dr. Philippe Jeanty und Dr. Sandra R Silva
- Welches ist die Funktion der Nieren in unserem Körper?
- Was ist das Potter Syndrom?
- Was ist ein Syndrom?
- Was zeigt die Studie von Dr. Potter?
- Häufigkeit
- Geschlechtszusammenhang
- Auftreten
- Todesursache
- Lebenserwartung
- Nierentransplantation
- Typen des Potter Syndroms
- Zu welchem Zeitpunkt kann das Potter Syndrom diagnostiziert werden?
- Weshalb haben Babys mit dem Potter Syndrom charakteristische Gesichtszüge?
- Wie kann ein Baby mit Potter Syndrom im Bauch der Mutter überleben?
- Wie hoch ist die Rückläufigkeitsrate beim Potter Syndrom?
Welches ist die Funktion der Nieren in unserem Körper?
Unser Körper produziert
Abfallprodukte, die ihn vergiften würden, würden sie sich
ansammeln. Durch Ausscheidung wird der Körper gereinigt. Die
Haut scheidet Wasser und Salze aus, die Lunge CO2 und Wasserdampf und
die Nieren Urin.
Die Nieren sind zwei paarig angelegte
Organe, die sich beidseits der Wirbelsäule etwa in Höhe der
unteren Rippen befinden. Eine gesunde Niere eines Erwachsenen ist
bohnenförmig, ca. 7cm breit und 12 cm lang. Ein kleines Rohr,
Harnleiter genannt, verbindet die Nieren mit der Blase. Die Nieren
bekommen sauerstoffreiches Blut direkt vom Herzen, damit sie gut
funktionieren können, das "verbrauchte" Blut wird in
den Blutkreislauf zurückgeleitet. Sie bestehen aus einem grossen
Netzwerk kleiner Kanälchen, in denen das Blut filtriert und von
seinen Schlacken befreit wird.
Was ist das Potter Syndrom?
Der Ausdruck Potter Syndrom beschreibt
die vollständige Abwesenheit (Agenesie) oder Missbildung
der Nieren beim Baby. Das Leiden bekam seinen Namen von der Ärztin
Edith Potter, die es als erste 1946 im Chicago Lying-In Hospital
beschrieben hat. Zuvor wurden vereinzelte Studien über betroffene Kinder gemacht,
einige sogar bereits im 16. Jahrhundert, doch man nahm an, dass es sich um ein
aussergewöhnlich rares Krankheitsbild handle
Dr. Potters Forschungen konzentrierten
sich ausschliesslich auf die vollständige Abwesenheit der Nieren (Nierenagenesie
/ Renal Agenesis), doch seither wurde der Name "Potter
Syndrom" auf jeglichen Zustand ausgeweitet, bei dem sich die
Nieren nicht korrekt ausbilden.
Was ist ein Syndrom?
Ein Syndrom ist ein Krankheitsbild, das
sich aus dem Zusammentreffen verschiedener charakteristischer
Symptome ergibt, die nur auf Grund eines primären Problems
auftreten. Beim Pottersyndrom ist das primäre Problem die
Abwesenheit der Nieren und deswegen treten weitere Symptome auf. Da
die Nieren kein Urin produzieren, gibt es kein Fruchtwasser, und ohne
Fruchtwasser können sich die Lungen nicht entwickeln. Der Mangel
an Fruchtwasser provoziert ebenfalls die typischen körperlichen
Merkmale betroffener Babies. Das Baby ist so dicht gedrängt im
Bauch der Mutter, dass seine Glieder sich nicht recht entwickeln
können und das Gesicht Züge wie flache Nase und Kinn
aufzeigt.
Die obengenannten Symptome zusammen
formen ein Syndrom das direkt vom primären Problem abhängt,
der Abwesenheit der Nieren.
Was zeigte die Studie von Dr. Potter?
Die erste Studie wurde über einen Zeitraum von 10 Jahren geführt und untersuchte 20 Kinder (17 Jungen und 3 Mädchen). Anhand der 19 vorhandenen Krankengeschichten der Mütter konnten folgende Ermittlungen gemacht werden :
- Das Alter der Mütter lag zwischen 18 und 39 Jahren, was ein Durchschnittsalter von 24 Jahren ergab.
- Zwei der Mütter hatten zuvor eine Fehlgeburt, nur zwei Mütter hatten bereits mehr als zwei Schwangerschaften. Eine davon hatte 11 Kinder.
- 19 Mütter waren weiss, eine schwarz.
Dr. Potter notierte, dass die meisten
Babys lebend geboren wurden. Nur ein Baby starb in utero vor den
Wehen, 6 starben in utero während der Wehen und 13 starben nach
der Geburt. Die Lebenslänge schwankte zwischen 25 Minuten und 11
Stunden 15 Minuten, was einen Durchschnitt von 1h 38 ergab.
Bei 16 Kindern war die Länge der
Schwangerschaft bekannt. Sie lag zwischen 26 und 40 Wochen, was einen
Durchschnitt von 32,5 Wochen ergab.
Dr. Potter war es nicht möglich,
die Fruchtwassermenge der einzelnen Babys zu ermitteln, so konnte sie
den wichtigen Zusammenhang zwischen der Nieren und der
Fruchtwasserproduktion nicht ziehen. Dies wurde erst später
entdeckt und bestätigt. Als Todesursache wurde die Missbildung
der Lungen angegeben.
Die Kinder zeigten auch gemeinsame
Gesichtszüge, wie breite Augen, platte Nasen und Kinn. Ausserdem
wurden Klumpfüsse und -Hände beobachtet.
Auffallend war, dass die Genitalien der
Mädchen extrem unterentwickelt waren, während die
Entwicklung bei den Jungen ganz normal war.
Dr. Potter zog den Schluss, dass die
Häufigkeit dieses Syndroms zwischen 4 und 7 Fällen pro 1000
verstorbener Neugeborener lag. Es gab keinen Zusammenhang zwischen
dem Alter der Mutter, der Geburtsart oder eventuellen Komplikationen
während der Schwangerschaft und dem Auftreten des Syndroms. Die
betroffenen Kinder wahren mehrheitlich männlich. Die Lungen
waren alle extrem unterentwickelt oder hypoplastisch, und die Babys
hatten charakteristische Gesichtszüge. Vor der Obduktion wurde
nur bei 8 Kindern eine Missbildung vermutet.
Häufigkeit:
Ungefähr 1 Fall auf 4000 Geburten
Geschlechtszusammenhang:
65-80% der betroffenen Babys sind männlich
Auftreten:
Die vollkommene Abwesenheit der Nieren tritt vor dem 31. Entwicklungstag des Fötus auf.
Todesursache:
Die Hauptursache ist respiratorische Insuffizienz (ungenügende Atmung). Die Nieren des ungeborenen Babys sind verantwortlich für die Fruchtwasserproduktion. Das Baby inhaliert Fruchtwasser in seine Lungen, wodurch die Lungen wachsen können. Wenn die Nieren abwesend sind oder nicht funktionieren, kann das lebensnotwendige Fruchtwasser nicht produziert werden und die Lungen können sich nicht mehr normal entwickeln. Deshalb kann das Baby nach der Geburt nicht atmen.
Lebenserwartung:
Ein Baby ohne Nieren könnte 3 oder 4 Tage überleben, wenn sich seine Lungen normal entwickelt hätten. Da dies aber leider nicht der Fall ist, liegt die maximale Lebenserwartung eines Kindes ohne Nieren bei ca. 12 Stunden. Ist eine geringe Nierenentwicklung und -Funktion vorhanden, kann sich die Lebenserwartung etwas verlängern, das Baby wird aber höchstwahrscheinlich die Hilfe eines Respirators brauchen und dialysiert werden müssen.
Nierentransplantation:
Eine Nierentransplantation bei einem
Kind ohne Nieren wäre ein nutzloses Unterfahren. Es ist sehr
schwierig abzuschätzen, ob noch andere Organe oder Gefässe
fehlgebildet sind, eine Lungentransplantation wäre auf jeden
Fall ebenfalls nötig. Es wäre sehr schwierig, dass Kind bis
zur Transplantation am Leben zu erhalten, falls überhaupt
geeignete Organe gefunden werden können. Der Organspender müsste
ein Kind des selben Alters sein, mit der gleichen Blutgruppe, was
sehr schwierig ist.
In extrem seltenen Fällen, wo eine
partielle Nierenentwicklung ausreichend für eine minimale
Lungenausbildung war, kann das Baby mit Hilfe eines Respirators und
Dialyse überleben und so gross werden, dass eine Transplantation
ins Auge gefasst werden kann. Dies wäre allerdings die Ausnahme
der Regel, denn die grosse Mehrheit der Babies mit Potter Syndrom
sterben während oder kurz nach der Geburt.
Typen des Potter Syndroms:
Die verbreiteste Form des Potter
Syndroms ist die vollständige Abwesenheit der Nieren ( bileaterale Nierenagenesie).
Das Ausmass des Leidens kann jedoch variieren, von der
vollständigen Abwesenheit beider Nieren, über Zystennieren,
der Entwicklung einer einzelnen Niere oder gar der Unterentwicklung
beider Nieren.
Die bilaterale Nierenagenesie wird als reines Potter
Syndrom bezeichnet, wogegen die anderen Fälle als Variationen
des Potter Syndroms gelten.
Zu welchem Zeitpunkt kann das Potter Syndrom diagnostiziert werden?
Die vollständige Abwesenheit der
Nieren tritt vor dem 31. Tag der fötalen Entwicklung auf. In der
zwölften Schwangerschaftswoche haben sich alle Organe des Babys
entwickelt, aufgrund deren Grösse ist es jedoch nicht möglich,
die Nieren beim Ultraschall zu sehen. Eine Bestimmung per Ultraschall
ist ab der 14. Schwangerschaftswoche praktizierbar, geschieht aber
meist beim Routineultraschall ab der 18. Woche. Das erste, was dem
Arzt auffallen wird, ist der Mangel an Fruchtwassers. Aufgrund dessen
wird er nachschauen, ob sich die Nieren korrekt entwickelt haben.
Weiterführende Beurteilungen in den folgenden Tagen und Wochen
können mit 95%iger Sicherheit ermitteln, ob die Nieren anwesend
sind. Es wird kontrolliert, ob die Nieren funktionieren. Man führt
dazu eine Nadel in den Bauch der Mutter, wie bei einer
Fruchtwasserpunktion, und spritzt eine Flüssigkeit in den Bauch
des Babys. Per Ultraschall kann danach ermittelt werden, ob diese
Flüssigkeit von den Nieren aufgenommen wird. Nach diesem Test
kann der Arzt mit 99%iger Sicherheit eine Diagnose erstellen.
Da vor der Geburt das Fehlen des
Fruchtwassers oft das einzige gut sichtbare Symptom ist, ist es
leider schwierig, das Potter Syndrom zu diagnostizieren. Es bleibt
oft unentdeckt, da der Rest der Entwicklung und das Gewicht des Babys
normal sind. Zusätzlich erschwert der Mangel an Fruchtwasser die
Ultraschalluntersuchung. Es kann also durchaus vorkommen, dass die
Fehlbildung bis zur Geburt verborgen bleibt. Alle Neugeborenen werden
sofort nach der Geburt auf ihre Hautfarbe, ihre Atmung, ihr Gewicht,
ihre Grösse und ihren Gesamtzustand untersucht. Bei Babys mit
dem Potter Syndrom fallen sofort ihre Atmungschwierigkeiten sowie
ihre typischen Gesichtszüge auf. Wurde während der
Schwangerschaft nichts Auffälliges bemerkt, kann die endgültige
Diagnose aber erst nach der Obduktion bestätigt werden.
Den Mangel an Fruchtwasser nennt man
Oligohydramnios. Das Gegenteil von Oligohydramnios ist
Polyhydramnios, zu viel Fruchtwasser. Polyhydramnios kann unter
anderem bei Verschlusstörungen des Neuralrohrs (Nervensystem)
auftreten.
Weshalb haben Babies mit dem Potter Syndrom charakteristische Gesichtszüge?
Das Fruchtwasser, das das Baby
normalerweise umgibt, gibt ihm Bewegungsfreiheit und erlaubt ihm frei
zu wachsen. Bewegung ist notwendig für die Entwicklung der
Muskel- und Knochensysteme. Das inhalierte Fruchtwasser ist
unerlässlich für die Entfaltung der Lungen. Das
Fruchtwasser erlaubt den Gliedern regelmässig zu wachsen und
verhindert, dass das Baby gegen den Uterus und den Bauch der Mutter
gedrückt wird.
Wenn das Fruchtwasser fehlt, muss das
Baby auf einem sehr engen Raum leben, sein Kopf und seine Glieder
werden eng zusammengedrückt. Dies kann zu einer platten Nase mit
breiter Nasenwurzel und einem flachen Kinn führen, die Ohren
können tief und eng anliegen. Die Muskeln sind unterentwickelt,
da das Baby keinen Bewegungsspielraum hatte, und die Füsse und
Hände sind nach innen gedreht, oft als Klumpfüsse, -Hände
beschrieben.
Wie kann ein Baby mit Potter Syndrom im Bauch der Mutter überleben ?
Solange das Baby im Bauch seiner Mutter ist, hängt sein Leben von der Plazenta (Mutterkuchen) ab. Die Plazenta ist sein "Lebenserhaltungssystem", sie führt dem Baby Nahrung und Sauerstoff zu und eliminiert seine Abfallprodukte. Sein Blut wird von den gut funktionierenden Nieren der Mutter gereinigt. Der Urin eines Babys besteht aus 99% Wasser. Solange die Plazenta also normal funktioniert, kann ein Baby ohne Nieren überleben. Probleme werden erst nach der Geburt auftreten.
Wie hoch ist die Rückläufigkeitsrate beim Potter Syndrom?
In dem meisten Fällen handelt es
sich um isolierte Missbildungen und es ist unwahrscheinlich, dass es
zweimal in derselben Familie auftritt. Statistisch gesehen, beträgt
das Risiko nach einem betroffenen Baby ein zweites Kind mit dem
Potter Syndrom zu gebären bei ca 3%. In wenigen Fällen, wo
eines der Eltern ein Nierenfehler hat, kann das Risiko auf 10%
steigen. Sehr selten kommt es vor, dass eine genetische Ursache
vorliegt, hier beträgt das Risiko 25 %.
Zum Glück liegt bei den meisten
Fällen von Potter Syndrom kein genetischer Link oder elterlicher
Nierenfehler vor, deshalb ist es sehr unwahrscheinlich, dass es
zweimal passiert.
Man hat noch nicht herausgefunden,
welches die Gründe des Potter Syndroms sind.
Quelle: potterssyndrome.org
Letzte Aktualisierung dieser Seite: 03.03.2020