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Ariel Elisabeth

1.10.1972

Schon als ich noch ein kleines Mädchen war, hatte ich davon geträumt, ein eigenes Baby zu haben. Immer wollte ich eine Mutter werden. Anfang 1972 fand ich heraus, dass ich schwanger war. Ich hatte gerade den ersten von zwei College-Abschlüssen in Englisch als zweiter Sprache mit Französisch als Nebenfach. Ich war sehr lernbegierig und fleissig, aber es war die Hippie-ära und obwohl ich meinen Abschluss mit Auszeichung an der Universität in Wisconsin-Milwaukee gemacht hatte, wünschte ich mir so sehr ein Kind.

Es war mir immer sehr schlecht und mein Bauch wuchs zu schnell. In der Zeit gab es noch keine Ultraschall- und Fruchtwasseruntersuche. Die vorgeburtlichen Tests, die heute Routine sind, gab es damals noch nicht. Ich dachte, ich würde Zwillinge oder Drillinge erwarten, aber mein Frauenarzt und die Hebamme wollten keine Röntgenuntersuchung durchführen. Etwa in der 16. Schwangerschaftswoche wurde eine Röntgenuntersuchung unumgänglich. Sie zeigte zwei Dinge: Erstens, dass ich wahrscheinlich eine Tochter bekommen würde, zweitens, dass mein Kind eine tödliche Missbildung namens Anenzephalie hatte und nicht lebensfähig war.

Ich erinnere mich noch daran, wie der Doktor und die zertifizierte Hebamme nach dem Röntgen in den Untersuchungsraum kamen und mir sagten, dass mein Baby wahrscheinlich ein Mädchen sei und zum Sterben verurteilt sei, entweder noch vor der Geburt, als Totgeburt oder kurz nach der Geburt.

Was ich für Zwillinge oder Drillinge gehalten hatte, war eine überproduktion von Fruchtwasser, weil manche Babies mit Anenzephalie das Fruchtwasser nicht schlucken können, wie es normale Babies tun. Meine liebe Tochte hatte keinen Schädel und nur einen rudimentären Hirnstamm. Man zeigte mir Bilder aus medizinischen Veröffentlichungen über Kinder mit Anenzephalie. Sie hatten keinen Schädel und der Kopf hörte über den Augenbrauen auf. Wenn es ein Gehirn gab, so war dies völlig freiliegend. Die Bilder, die ich zu sehen bekam, zeigten Babies, die offensichtlich schon lange tot und sehr deformiert waren. Sie hatten lange Arme und Beine und sahen irgendwie aus wie Frösche - ich war fassungslos.

Zu dieser Zeit war Abtreibung gerade legalisiert worden, aber nur wenn dadurch das Leben oder die mentale Gesundheit der Mutter gerettet werden konnte. Der Arzt und meine Hebamme sagten mir, dass ich mir ein Gutachten von einem Psychiater, den sie kannten, holen und die Schwangerschaft abbrechen sollte, da sie ja hoffnungslos war. Sie meinten, dass ich leicht einen Termin bei der Universität in Madison, Wisconsin, USA, bekommen könnte und dass der Psychiater ein Gutachten unterschreiben würde. Es würde weniger als 24 Stunden dauern, um den Prozess abzuschliessen, und dann könnte ich schon unterwegs sein.

Meine Eltern wussten, dass ich schwanger war. Sie rieten beide zu Abtreibung. Auch meine ein Jahr jüngere Schwester sagte, ich sollte abtreiben. Ich bin als reformierte Jüdin geboren worden (mütterlicherseits), einer sehr liberal eingestellte Art der Religion, in der Agnostizismus und sogar Atheismus erlaubt sind, mehr eine ethische Lebenseinstellung mit dem Ziel, auf der Erde Gutes zu tun und nach dem Tod alles Gott zu überlassen. Mein Vater ist Presbyterianer, Protestant und liberal. Folglich war meine Familie sehr "freidenkerisch" und neigte dazu, mein ungeborenes Kind als ein deformiertes Gewächs und nicht als ein echtes Kind anzusehen. Sie verhielten sich wie gute Eltern, aus Liebe zu mir, aber sie glaubten niemals, dass ich ein richtiges Baby haben würde. Es war ein Fötus. Sie waren sehr fürsorglich.

Aber ich hatte gefühlt, wie sich mein Baby in mir bewegt hatte. Meine Tochter war sehr real für mich, und in meinem Herzen wusste ich, dass sie eine kleine Persönlichkeit war, die zugleich verurteilt war (wie wir alle letztendlich zum Tod) und ins Leben hineingeliebt.

Unglücklicherweise für meine Familie wurde ich sehr starrköpfig und sagte allen, sie sollten mich in Ruhe lassen. Auf keinen Fall würde ich dieses Baby abtreiben lassen, das für mich eine echte Person war mit ihren eigenen Rechten. Ich war auch sehr ärgerlich auf den Frauenarzt und sagte ihm auch, er solle mich in Ruhe lassen. Ich würde das mit der Hebamme klären. Ich sagte dem Arzt, ich wolle ihn nie wieder sehen. Zum Glück respektierte der Arzt tatsächlich meine Entscheidung und hielt sich im Hintergrund. Die Hebamme, Lois, die aus Sorge um eine junge Frau zu der Abtreibung geraten hatte, begleitete mich durch die Schwangerschaft. Sie kam dahin, meine Ansichten zu respektieren.

Am Nachmittag des 30. September 1972 begannen meine Wehen. Ich war immer noch hartnäckig und erzählte meiner Familie überhaupt nichts. Ich fuhr alleine ins Krankenhaus. Mein Baby war ausgewachsen und sollte geboren werden. Es war eine sehr lange Geburt ohne Betäubungsmittel oder sowas. Ich wollte ganz wach sein, um mein Baby zu begrüssen. Weil sie keinen Schädel hatte, wurde sie mit dem Gesicht zuerst geboren gegen 5 Uhr nachmittags am 1. Oktober 1972. Sie wurde lebendig geboren und sie war mein eigenes kleines Mädchen.

Sie sah überhaupt nicht aus wie irgendeins der Bilder, die man mir gezeigt hatte. Ja, sie hatte Anenzephalie, aber sie hatte eine pfirsichfarbene Haut, wunderbar dunkle blaue Augen und lange Wimpern. Sie hatte ein kleines Büschel seidiges blondes Haar hinten am Kopf, und sie schaute mich intensiv an, als Lois, die Hebamme, sie mir in die Arme legte. Ich war vorbereitet und hatte mitgebracht, was ich brauchte. Ich drückte sie an mich und badete sie und kleidete sie in ein langes weisses Spitzenkleid und setzte eine winzige Spitzenkappe auf ihren Kopf und wickelte sie dann in eine hübsche weisse Decke. Ich staunte über ihre schönen Finger und Zehen. Sie schien erstaunt zu sein, mich zu treffen. Ihr Saugreflex war schwach, aber sie schmiegte sich an meine Brust und nuckelte, während sie mich anstarrte. Sie war ein Mensch und sehr real, meine eigene geliebte Tochter.

Ariel Elisabeth Sainte Claire. Das war der Name, den ich für sie ausgesucht hatte und den ich ihr bei der Geburt gab. Ariel ist ein hebräischer Name, Elisabeth in Beachtung der Familie von meines Vaters Seite her.

Ariel und ich wurden auf einen anderen Flur des Krankenhauses verlegt, weg von der Neugeborenenabteilung. Ich hatte mir das nicht ausgesucht, aber ich denke, man hatte Mitleid mit mir, damit ich nicht die anderen Babies schreien hören würde. Ich hielt sie in meinen Armen, dicht an meiner Brust. Sie schrie niemals, sie schaute mich nur an. Sie versuchte zu trinken, wurde aber immer schwächer, dann schloss sie ihre Augen und schlief ein, in die Ewigkeit entschlafen.

Nach jüdischem Gesetz nahm ich meine Tochter, wusch sie und zog sie um, und meine geliebte Ariel Elisabeth wurde am nächsten Tag beerdigt. Lois, meine Hebamme, war ausser dem Rabbi die einzige anwesende Person. Der Bruch mit meiner Familie war noch nicht geheilt, wenn das auch mit der Zeit geschah. Sie ist beerdigt an einem hübschen Fleck in der Nähe eines grossen Baumes, mit einem kleinen Grabstein, der ihren Namen trägt. Darauf steht: Ariel Elisabeth Sainte Claire, geliebt auf dieser Erde.

Ich werde meine Tochter immer vermissen. Ich bin nicht sicher, ob es einen Himmel gibt, aber wenn, dann weiss ich dass ich sie dort treffen werde.

 

Catherine Angelica

Nachdem ich Ariel verloren hatte, fühlte ich mich beraubt und trostlos. Ich hatte keinen Kontakt mit meiner Familie, denn ich war so ärgerlich über ihren Rat, Ariel abzutreiben. Ich vermisste meine kostbare Tochter Ariel verzweifelt. Ich hatte gerade begonnen, an einer Highschool in der Nähe zu unterrichten. Ich wurde wieder schwanger, aber ich hatte eine Fehlgeburt in der zwölften Schwangerschaftswoche. Es kam ziemlich plötzlich; ich begann während des Unterrichts zu bluten und musste die Stunde abbrechen. Als ich beim Krankenhaus ankam, bestand kein Zweifel mehr, dass ich eine Fehlgeburt hatte und nichts, aber auch gar nichts, den Verlust meines Kindes würde aufhalten können. Ich wusste instinktiv, dass ich wieder eine Tochter austrug, und irgendwie fühlte ich, dass sie in derselben Lage war wie ihre Schwester. Das wurde niemals bestätigt, denn es wurde nichts weiter getan, als mich im Krankenhaus aufzunehmen, wo ich die Fehlgeburt hatte.

Ich gab meinem Baby niemals einen Namen bis jetzt, aber sie war so real wie Ariel und ihr Verlust brachte mir auch so viel Kummer. Ich gebe ihr heute einen Namen, denn eine Internet-Freundin, Dawn, drängte mich, sie nach all diesen Jahren zu benennen, um ihre Realität als kleines menschliches Wesen anzuerkennen. Nach der Fehlgeburt wollte ich sie sehen, aber das medizinische Personal verweigerte es mir. Als Fehlgeburt konnte sie mir nicht zur Beerdigung überlassen werden. Ich weiss nicht, was sie mit ihrem winzigen Körper taten. Aber diesmal rief ich vom Krankenhaus aus meine Familie an und legte unseren Streit bei. Ich erinnere mich, wie meine Mutter mich in den Armen hielt, als der Schmerz, ein weiteres Baby zu verlieren, über mich hinwegflutete.

Mein Vater war da, um mich nach Hause zu fahren, und er brachte zwei Windrädchen mit: eins für Ariel, das auf ihr Grab gesteckt wurde, und eins für mich als Erinnerung an das zweite Baby, das ich verloren hatte. Wir hatten ein langes Gespräch und ich sagte ihnen, wie traurig ich war und wie leid es mir tat, dass ich sie aus meinem Leben herausgehalten hatte; sie erkannten an, dass Ariel genauso real war wie mein anderes Baby.

1974 schenkte ich einem gesunden Sohn das Leben, Kaiden, und 1980 einem anderen Sohn, Lewis. 1981 wurde Lee geboren und ich habe nun drei gesunde Söhne. Sie wissen von ihren kleinen Schwestern. Sie sind nun liebende, freundliche erwachsene Männer, und ihnen ist bewusst, dass sie Schwestern im Himmel haben. Kaiden ist 26, Computerprogrammier und hat eine Verlobte, Barbara, die in der gleichen Branche arbeitet. Lewis ist ein aussergewöhnlich intelligenter junger Mann in seiner medizinischen Assistenzzeit. Er ist jetzt 22 und hat beschleunigten Unterricht genommen. Lee ist auch am College, in seinem dritten Jahr. Er ist 21 und studiert Computerwissenschaft.

Aber weißt du was? Es würde nichts ausmachen, wenn sie nicht klug und erfolgreich wären; was von Bedeutung ist, ist nur, dass sie freundliche und fürsorgliche Söhne sind, die wissen, dass ihre Schwestern sehr, sehr reale Menschen waren, die ein Teil ihrer Familie in der Ewigkeit sind. Ich habe keine Bilder von Ariel und natürlich erst recht nicht von Catherine. Trotzdem bekomme ich jedes Jahr in ihrem Namen eine Muttertagskarte in ihrer Erinnerung. Sie wissen, dass die Freude an drei gesunden Söhnen in keiner Weise den Schmerz vertreiben kann. Ich denke, ich habe sie gut erzogen.

Ich bin jetzt eine registrierte Beschäftigungstherapeutin und habe meinen zweiten Abschluss. Mein Leben ist stabil; ich bin immer noch jüdisch, aber ich habe meine Ansichten über das Leben nach dem Tod geändert. Ich glaube, dass ich zwei Engel-Töchter habe und drei Söhne, die eines Tages dieses Leben verlassen, wie wir es alle tun. Ich freue mich auf unsere Wiedervereinigung.

Azariah Sainte Claire

 

 

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 20.02.2019