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Kristina Marie

 

10.5.1993

Man hatte mir gerade eben angekündigt, dass mein ungeborenes Baby Anenzephalie hatte, eine seltene und schreckliche Fehlbildung, die bedeutet, dass es wohl lebte, doch kein Gehirn hatte. Ich weinte, als der Arzt meine Hand nahm, und versuchte mir zu erklären, was passiert war. Das Neuralrohr des Babys hatte sich oben nicht vollkommen geschlossen, wie es das 21 - 28 Tage nach der Befruchtung hätte sollen. Je nach Fehlbildungsgrad, stirbt das Baby während oder kurz nach der Geburt, in seltenen Fällen kann es länger leben.

Kurz nachdem mein Mann Dave und ich 1986 geheiratet haben, bekamen wir drei gesunde Kinder nahe aufeinander: Laura, Susan und Andrew (Drew). Wir hatten beschlossen abzuwarten, ob wir mehr Kinder planen wollten. Doch ich entdeckte, dass man sein Leben nicht immer im voraus planen kann.

Was hatte diese schlimme Fehlbildung verursacht? War ich es? War es etwas, was ich gemacht oder unterlassen hatte während mein Baby in meinem Bauch heranwuchs? Später habe ich erfahren, dass die Ärzte nicht wissen, was Anenzephalie verursacht, dass sie schon im alten Ägypten bekannt war. Mein Mann fragte sich auch, ob er verantwortlich für den Zustand des Babys war.

Wir sind ins Universitätsspital von Salt Lake City gefahren, um die Diagnose bestätigen zu lassen. Freunde haben sich um unsere kleinen Kinder gekümmert. Laura war damals 5 Jahre alt, Susan 4 und Drew 2. Während der langen Fahrt habe ich in Gedanken bereits die Beerdigung meines Babys organisiert. Ich hätte gerne mit Dave darüber gesprochen, doch er konnte es nicht.

Der Arzt hat die vorhandenen Ultraschallbilder angeschaut, und dann auf den strampelnden Fötus auf dem Bildschirm. Er sagte: "Ja, es ist Anenzephalie. Wie kann ich ihnen helfen?"

Ich fragte, was wir denn jetzt für Möglichkeiten hätten, und welches die damit verbundenen Risiken seien. Da ich erst in der 14. SSW war, hatten wir drei Möglichkeiten: Abtreibung, frühe Einleitung der Geburt oder weitertragen.

Ich wusste bereits in meinem Herzen, dass ich das Baby austragen wollte. Ich wusste nur nicht, wie ich das machen sollte. Man sagte uns, dass nicht viele Frauen die Wahl treffen, eine solche Schwangerschaft weiterzuführen. Ich fragte ihn, ob er eine Selbsthilfegruppe kenne, was er verneinte.

Danach haben wir mit einer Trauer-Beraterin. Ich fragte sie, ob sie ein Photo von einem Baby mit Anenzephalie hätte, doch sie konnte keines finden. Ich fragte sie, ob sie jemanden kenne, der das gleiche wie wir erlebt hätte, doch wieder nichts. Ich fühlte mich so alleine.

Als wir das Gebäude verliessen, sah ich überall Babys. Ich weinte. Ich hätte so gerne ein Neugeborenes gehalten. Wir gingen zurück in unser Hotel, nahmen uns in die Arme und weinten. Ich erinnere mich wie ich sagte: "ich will mein Baby zurück." Geistig und gefühlsmässig hatte ich mein Baby schon verloren. Körperlich war ich nun die Intensivstation meines Babys für die nächsten sechs Monate.

Der Geburtstermin war am 8. Mai, einen Tag vor dem Muttertag.

Einen Monat nach der Diagnose kam ein junges Paar zu uns. Kathleen und Dave erwarteten ihr zweites Kind. Kathleen sagte, dass etwas mit dem Herz des Babys nicht stimme. Reed David, ihr ungeborener Sohn, hatte ein hypoplastisches Linksherzsyndrom. Sein Herz hatte sich nicht richtig entwickelt und würde zu klein sein, um ihn ausserhalb des Mutterleibs am Leben zu erhalten. Die Ärzte gaben ihm eine Lebenserwartung von drei Tagen bis drei Wochen. Jetzt kannte ich jemanden, den das Gleiche wie mich erwartete!

Kathleen und ich rufen einander oft an. Ihr Entbindungstermin war vor meinem. Sie hatten beschlossen, Reed nach Hause zu bringen, und ihn so lange wie möglich zu lieben. Reed wurde am 23. Februar 1993 geboren. Er war ein schönes Baby. Er starb sechs Tage später.

Als ich in der 19. Schwangerschaftswoche war, sahen wir auf dem Ultraschall, dass es ein Mädchen war. Wir gaben ihr den Namen Kristina Marie. Den Namen, den ich schon bevor ihrer Zeugung ausgewählt hatte.

Ich bekam die Adresse von Compassionate Friends, einer Selbsthilfegruppe für Eltern, die ein Kind verloren hatten. Leider wurde mir höflich mitgeteilt, ich entspreche ihren Aufnahmekriterien nicht, da mein Kind ja noch nicht gestorben sei. Ich war am Boden zerstört. Ich hatte noch vier Monate vor mir. Ich stellte Gottes Plan in Frage. Ich hatte Kathleen, doch ich brauchte auch jemanden, der ein Baby in Anenzephalie ausgetragen hatte, um mir zu zeigen, wie es geht.

Doch dann fand ich endlich diese Person durch ein Buch, das mein Bruder mir gesandt hatte. Eine Frau hatte ihm gesagt, er solle mir dieses Buch senden. Es enthielt verschiedene Adressen von Selbsthilfegruppen. Ich bat ihn sofort, mich mit dieser Frau in Kontakt zu bringen, was er auch tat. Ich habe sie angerufen, wir sprachen stundenlang. Ich werde nie vergessen, was sie mir über ihre Tochter erzählte: "Wenn es ihnen hilft, wenn ich von Rachel Marie spreche, dann hilft es mir, zu fühlen, dass ihr Leben nicht umsonst war".

Ich schrieb an die Gruppen, die in dem Buch aufgelistet waren. Zwei Gruppen gaben Antwort. Das Personal von SHARE hat mir besonders geholfen durch Telefonate und Briefe. Ich wohnte jedoch zu weit entfernt von ihren Ortsgruppen.

SHARE, der Genetikberater des Shodair Genetics in Helena und das Gebet wurden zu meiner Rettungsleine. Ich hatte eine Gratisnummer für Shodair, wo ich zu jeder Tages und Nachtzeit anrufen konnte um zu reden, weinen oder um mehr über Anenzephalie zu erfahren.

Ich fühlte einen Drang, alles in meiner Macht stehende zu kontrollieren. Ich sammelte Bilder von Babies mit Anenzephalie, plante die Geburt, die Beerdigung. Alles was mir erlaubte, das Gefühl zu haben, diese unkontrollierbare Situation zu kontrollieren.

Es sprach sich schnell in unserer kleinen Stadt herum, was bei uns los war. Ich war jedoch immer wieder erstaunt, wie viele Leute mich dennoch fragten, wann ich denn den Geburtstermin hätte, oder das wievielte Kind ich denn erwarte. Manchmal antwortete ich machte weiter. Andere Male erklärte ich meine Situation, ob sie es nun wirklich hören wollten oder nicht.

Dave und ich wären am liebsten davongerannt, doch wir wussten, es gab keinen Ort, wo wir uns hätten verstecken können.

Meine Freunde halfen mir mit aufmunternden Nachrichten, meine Bibelgruppe putzte sogar unser Haus für mich. Andere haben eine Mahlzeit für uns gekocht, damit ich mich hinlegen und die Beine einen Moment hochlegen konnte. Anonyme Geschenke lagen auf unserer Türschwelle. Anstelle der traditionellen "Babyparty", wurde eine "Mahlzeiten-Party" zu Kristinas Ehren abgehalten: jeder von unseren Freunden brachte eine Mahlzeit vorbei zum Einfrieren und später essen. Ich werde diese bekommene Hilfe nie vergessen.

Kurz vor Kristinas Geburt starb Daves Mutter, Grandma Jo, an einer Lungenkrankheit. Bevor sie starb sagt sie uns, Gott hätte gewollt, dass sie als erste sterbe, damit sie sich um's Baby kümmern könne. Sie wurde am 4. Mai begraben.

In der 40. Schwangerschaftswoche + zwei Tagen wurde die Geburt eingeleitet. Wir spürten die Anwesenheit von Grandma im Gebärsaal als Kristina Marie um 20.30 Uhr zur Welt kam. Ich wollte sie sehen, doch war gleichzeitig sehr nervös. Ich begann zu weinen, als mein Mann sie mir in die Arme legte. Ich konnte diesem Baby kein Leben mehr geben. Ich hätte es so für sie gewollt. Sie war schön, mit ihren Gesichtszügen, ihren Ohren, ihren Haaren. Sie atmete jedoch nicht und starb 9 Minuten später in meinen Armen. Es war am 10. Mai 1993, einen Tag nach Muttertag.

Ich wollte, dass die Gemeinde meine Tochter anerkennt. Ich wollte, dass sie ein Recht auf eine Todesanzeige und eine öffentliche Beerdigung hatte. Ich hatte alles so gut wie möglich geplant, so dass ich das Gefühl hatte, als Mutter alles in meiner Macht stehende für sie getan zu haben.

Vor Kristinas Geburt und Tod hatte ich Angst vor ihrem Aussehen. Angst im Gebärsaal die Fassung zu verlieren. Ich hatte vor so vielen Dingen Angst. Der schlimmste Moment meines Lebens war, als ich in das Krankenhaus kam mit dem Wissen, dass ich ihr nun bald "Hallo" und "Auf Wiedersehen" sagen musste. Sie war unser viertes Kind, ich wollte, dass das Pflegepersonal genau wusste, was ich empfand und wie ich behandelt werden wollte. Im Nachhinein hätte ich sie später beerdigen wollen, damit ich ihr Leben noch etwas länger hätte fühlen können. Sie bewegte sich ein wenig in meinen Armen, doch bevor ich sie tragen konnte, war sie fünf Minuten bei der Hebammen. Ich hatte Angst vor dem Tod, jetzt nicht mehr.

Denken Sie immer daran: es ist nur ein kleines schwaches Baby, das Sie nie ersetzen und nie vergessen werden.

Marie Visscher

 

 

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 07.05.2021